Horrorkönig huldigt seiner Lieblingsfigur
Stephen Kings Miss Marple ermittelt wieder– heute erscheint der neue Roman „Holly“
Spielte die Detektivin Holly Gibney in der Verfilmung von „The Outsider“: Die britische Schauspielerin und Sängerin Cynthia Erivo, hier bei der Premiere zum Marvel-Film „Wakanda Forever“.
Quelle: picture alliance / Scott Garfitt/Invision/AP
Die autistische Ermittlerin Holly Gibney ist zu Stephen Kings Lieblingsfigur geworden. Auf der Suche nach einer verschwundenen jungen Frau stößt die Detektivin auf zwei Monster aus Fleisch und Blut. In seinem zu Pandemiezeiten spielenden Thriller „Holly“ geht der König der Gänsehautgeschichten auch mit der Trump-Herrschaft ins Gericht.
Wir werden in einen Sumpf einsinken. In einen bösen, blutigen Sumpf. Das Versprechen an uns Leserinnen und Leser gibt Stephen King schon auf der dritten der 639 Seiten seines neuesten Romans „Holly“. Er tut das in einem seiner typischen Vorgriffe, die man in alten Kinoserials oder bei Fernsehserien als Cliffhanger kennt. Böse zum Beispiel ist, dass sich der 40-jährige Jogger Jorge Castro, der durch in einer namenlosen Stadt durch den Stadtpark läuft, der ähnlich groß wie der New Yorker Central Park ist, völlig umsonst Gedanken um Fitness und Figur macht, die er als 50-Jähriger haben wird. „Das Schicksal ist ein Schelm“, schreibt King mit allwissendem dunklem Schmunzeln. „Jorge Castro wird nicht einmal seinen einundvierzigsten Geburtstag erleben“.
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Ein Professorenpaar als besonders verabscheuungswürdige Monster
Er wird umgebracht werden von King, einem der berühmtesten „Papiermörder“ der amerikanischen Literatur, der für die Untat wieder andere Leute vorschicken wird, Figuren, die wie Castro seiner Fantasie und Feder entsprungen sind. Ein paar Seiten weiter schon wird man Emily und Rodney Harris kennenlernen, zwei emeritierte Professoren, eine Literaturwissenschaftlerin und einen Ernährungsforscher, die man nach der Lektüre zu den unwahrscheinlichsten und zugleich verabscheuungswürdigsten Monstern aus dem Gruselpanoptikum Kings zählen wird.
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Sie sind alt, nicht so alt wie Kings Pennywise, der Ewige, aber sie lauern in ähnlichen „Badlands“, an einem ähnlich unheimlichen Ort wie der Clown aus einer anderen Dimension, der in Kings Meisterstück „Es“ (1986) im Kanal unter der Stadt Derry am Flüsschen Kenduskeag hauste. Auf der Anhöhe über dem „Dickicht“, dem verrufenen Teil des Stadtparks, gegenüber einer Straße mit leerstehenden Häusern und Geschäften, die einem ein wenig wie das Update einer Lovecraft-Siedlung vorkommt, haben die beiden Alten ihren Van mit falschem Nummernschild aufgestellt, um ihr erstes Opfer zu fangen – mit einer Art umgekehrtem Enkeltrick.
Liebt seine Holly und geht mit Donald Trumps Präsidentschaft ins Gericht: Der amerikanische Schriftsteller Stephen King, der seit seinem Debüt "Carrie" (1974) Beststeller schreibt und immer wieder als "Edgar Allan Poe" der Gegenwart bezeichnet wurde.
Quelle: Evan Agostini/dpa
Sie gaukeln Altershilflosigkeit vor – er im Rollstuhl, sie gebrechlich daneben. Der Rolli muss die Rampe hoch, der Akku ist leer und Castro hilft gern, kennt der Dozent für kreatives Schreiben und lateinamerikanische Literatur Emily doch vom College her. Was ihn dann oben an der Rampe gestochen hat, war aber keineswegs eine Wespe wie zunächst vermutet.
Und als Castro später in einem Keller in einem Käfig erwacht und von Emily Harris aufgefordert wird, ein Stück rohe Leber zu verspeisen, ist das der Beginn einer wirklich unfassbaren Geschichte, von deren Geheimnis wir indes sehr früh viel bis alles wissen. Bald geht es nur noch um die grausigen Details der Taten und das Hinabtauchen in die Psyche der Täter.
King springt so gut wie nie über seinen Moralistenschatten
„Holly“ ist ein Suspense-Thriller wie oft bei King. Es geht nicht darum herauszufinden, wer die Bluttaten begangen hat, sondern wer den Mördern auf welche Weise auf die Spur kommt, ob und wie Schlussfolgerungen zu einer Schuldzuweisung und Festnahme führen. Schade, dass man vorab weiß, das King in seinen Romanen so gut wie nie über seinen Moralistenschatten springen kann und das Böse so gut wie sicher besiegt werden wird, mag es noch so oft wieder aufstehen.
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Der Leser springt dann von 2012 ins Jahr 2021. In der Stadt am Eriesee, in der Sheriff Bill Hodges, depressiver, alkoholkranker Ex-Cop, einst dem Mercedes-Killer auf die Spur kam, ist Bonnie Dahl, eine 24-jährige junge Frau, verschwunden. Und ihre Mutter Penelope erzählt einer Privatdetektivin von der Untätigkeit der Behörden, von Bonnies am „Dickicht“ so seltsam akkurat abgestelltem Fahrrad, von einer daran befestigten höchst untypischen Abschiedsbotschaft in Versalien.
Tipp des Lesers an die Romanfigur: Holly Gibney ist unbedingt zu vertrauen
Die Frau, die Penelope Dahls Auftrag annimmt, ist Holly Gibney, nach der Kings neues Buch benannt ist. Holly ist Chefin der Detektei Finders Keepers, und man empfiehlt der verzweifelten Penelope als Leser, ihr uneingeschränkt zu vertrauen.
Holly ist Stephen Kings Lieblingskind unter all seinen Schöpfungen, das Nesthäkchen, das er nicht loslassen kann. Die einst graue Maus, voller eingepflanzter Ängste und Unsicherheiten, zu verorten irgendwo im autistischen Spektrum, hat sich im Laufe von vier Romanen und einer längeren Kurzgeschichte von einer interessanten Nebenfigur zu einer überzeugenden Protagonistin entwickelt.
Holly hat das volle Spektrum des King-Kosmos ausgelotet
Sie hat das volle Spektrum des King-Kosmos ausgelotet – dass Mörder aus Fleisch und Blut Möglichkeiten finden können, aus dem Tal des Todes zurückzufinden (die „Mr. Mercedes“-Trilogie) und Bestien in Menschengestalt, Wechselbälger, die mit ihren gestaltwandlerischen Fähigkeiten Unheil stiften, auf Erden unterwegs sind („Der Outsider“, „Blutige Nachrichten“).
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Was Holly faszinierend macht, ist das autistische Gehirn, das permanent am Dechiffrieren des „normalen“ menschlichen Verhaltens ist, um immer mehr gleichberechtigt an dieser Normalität teilhaben zu können. Die natürlich eine Illusion ist. Das Buch „Holly“ ist kein Horrorroman mit übernatürlichem Bestiarium, das einzig paranormale Element ist der Traum einer Figur von einer Verstorbenen, die einer der Figuren der guten Seite einen Hinweis gibt.
Ganz normale Mörder – und doch vampirische Existenzen
Freilich sind die Stellvertreter des Bösen durchaus vampirische Existenzen, die sich - alt und faltig wie Coppolas Graf Dracula – durch den sehr speziellen Aderlass an ihren Opfern zu verjüngen vermögen – jedenfalls ist das die Theorie des Ernährungsspezialisten Rodney Harris.
King modernisiert hier die Volksmärchen der Brüder Grimm. „Was hast du für breite Schultern?“ „Was hast du für ein falsches Nummernschild an deinem Van?“ dämmert es Jorge Castro ähnlich zu spät wie dem Rotkäppchen vor dem als Großmutter verkleideten Wolf. Und der Verlauf ist dann „Hänsel und Gretel“ mit gleich zwei „Hexen“ und nur (jeweils und im Dreijahresabstand) einem Opfer, kunstfertig in unsere zunehmend wahnwitziger werdende urbane Gegenwart versetzt, dem neuen finsteren Märchenwald.
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Die Gefangenen versuchen ihre Versionen von Hänsels Stöckchentrick, Kurzsichtigkeit wie im Fall der Knusperhaushexe gehört indes nicht zu den Gebrechen der beiden Kerkermeister. Die Chance der letzten Opfer ist, dass der alte Professor zu eitel ist, sich seine Demenz (und damit zugleich den Fehlschlag seiner wissenschaftlichen „Arbeit“) einzugestehen. Das ermöglicht – obwohl dem Zuschauer bis dahin bereits alle Geheimnisse offenliegen – einen ziemlich spannenden Showdown.
„Holly“ ist Kings Corona- und Anti-Trump-Roman
Neben einem Thriller ist „Holly“ Kings auch ein Corona-Roman. Er führt uns zurück in die Zeiten, die schon wieder so fern scheinen, auch wenn eine neue Omikron-Variante auf dem Vormarsch ist. Die Maskenjahre, in denen man die Ellenbogen zur Begrüßung aneinanderstieß und alsdann die Zahl seiner Impfungen samt zugehörigem Impfstoff nannte. Und auf immer mehr Zeitgenossen stieß, in denen sich ein zweites Virus ausgebreitet zu haben schien, das der Ignoranz und des Asozialen, Menschen, die mit ihrer als „Querdenkerei“ euphemisierten Egomanie nicht nur eigenes, sondern auch fremdes Unglück in Kauf nahmen.
King erinnert an den letzten und hoffentlich nicht nächsten Präsidenten, den Hokus-PoTUS, der allen Ernstes Bleichmittelinjektionen gegen das Virus vorschlug. Fast hatte man vergessen, wie viele Maga-Maniacs Trumps irrlichternden Corona-Plappereien folgten und damit ihre Gesundheit aufs Spiel setzten (und womöglich ihr Leben verloren). Trump, der nach eigenen Worten „beste Präsident aller Zeiten“, hat durchaus mehr als die Toten des Dreikönigstags 2021 auf dem Kerbholz.
Auch jener Tag der wohl schwersten Demokratiebeschädigung in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, als ein zu Invasions- und Lynchstimmung aufgewiegelter Mob bereit war, einer Willkürherrschaft die Tür zu öffnen, findet Eingang in „Holly“. Geschickt öffnet King, der zahllose Tweets gegen Trump losgeschickt hat, Einblick in die „gehobene Wählerschaft“ des Unpräsidenten.
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Die Monster in „Holly“ sind insgeheim Trumpisten und Rassisten
In Rodney Harris lauert angesichts der Nachrichten vom Sturm auf das Capitol im Fernsehen der kalte Wissenschaftler, der wie durch ein Mikroskop auf das Chaos blickend, wissen will, „was dabei herauskommt“.
Und in Emily steckt eine kultivierte Herrenmenschin, eine von der weißen Vorherrschaft überzeugte Trumpistin, der in ihren literarischen Zirkeln nie ein Wort der Diskriminierung oder des Rassismus über die Lippen käme, deren Herz aber neben dem Kellerkerker ihre zweite Mördergrube ist, in dem ihre Opfer „Nigger“ und „Bohnenfresser“ heißen. Die einander liebevoll zugetanen Eheleute Harris – ja, dies ist auch eine (rabenschwarze) „Lovestory“ – reden von ihren Gefangenen als „Schlachtvieh“. Ein das Lebensrecht anderer aberkennender Blick auf die Welt als Theater des Ich, wie man ihn bei Soziopathen findet, bei Kriegsherren und Diktatoren. Schon immer waren Kings Geschichten amerikanische Spiegel. Hier nun blicken wir frontal auf das schwarz zuckende Herz der Finsternis.
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Kings Miss Marple – Auf weitere Holly-Gibney-Fälle darf man hoffen
Dass King künftig von Holly Gibney, seiner eigenen Miss Marple, lassen wird, steht nicht zu erwarten, erlaubt ihm diese Ermittlerin doch sowohl Ausflüge in die Thrillerwelt als auch in die Twilight Zone der Nachtschattenwesen. Dann werden wir auch Barbara und Jerome Robinson wieder begegnen, zwei ihrer Freunde und Helfer bei Finders Keepers.
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King findet mit diesen beiden Figuren ein Happy End für die eigene Profession, ruft ein Hurra auf den Beruf des Schriftstellers aus, dessen finstere Seiten er in Romanen wie „Shining“ (1977) oder „Stark – The Dark Half“ (1989) hervorzuheben pflegte. Jerome verarbeitet Familiengeschichte zu einem erfolgreichen Sachbuch und in Gestalt Barbaras bricht King eine Lanze für die Lyrik, die hohe, eher karg entlohnte Kunst, die er höchstens mal am Rande versucht hat. King singt das Loblied der Lyrik und seine neuesten Gehversuche hier sind gar nicht schlecht.
Vielleicht kommt von diesem inzwischen hochdekorierten „Edgar Allan Poe des 20. (und 21.) Jahrhunderts“ ja auch noch ein „Raven“. Man soll niemals nie und zuweilen durchaus mal „nevermore“ sagen.
Stephen King: „Holly“, Heyne, 639 Seiten, 28 Euro (erscheint am 20. September)